Es waren einmal zwei Schwestern
Eine Willkommensgeschichte für Flora & Fauna von Martin Baltscheit & Christine Schwarz
Es waren einmal zwei Schwestern, die waren ganz aus Unterschieden gemacht. Obwohl sie dieselbe Mutter und denselben Vater hatten, glich keine der anderen und sie glichen auch den Eltern nicht. Niemand konnte sagen: „Sieh nur, diese kommt nach der Mutter nach und jene dort dem Vater.“ Beide waren ganz neue Erfindungen und nur in einer Sache gleich: ihrer Schönheit! Und kein Lebewesen hätte je etwas anderes behauptet. Da wohnten zwei vollkommene Mädchen auf dem Gipfel der Makellosigkeit, vollwangig und über die Maßen üppig waren sie, bereit, jeden Wettstreit in Liebreiz, Vielfalt und Einfallsreichtum zu gewinnen. Weil aber zum Streiten nur die eigene Schwester auf dem Planeten wohnte, zankten sie sich wie die Kesselflicker. Ihre immer neuen Einfälle, die andere auszustechen, aber machten sie noch schöner, und die Mädchen entwickelten sich vorzüglich in all dem herrlichen Gegeneinander.
Nun will ich euch sagen, von wem ich rede: Flora & Fauna hießen die beiden. Die eine machte Pflanzen, die andere Tiere. Ihre Eltern waren Mutter Erde und Vater Wind. Vater Wind war immer eilig in Geschäften unterwegs, verband alles mit jedem und war selten zu Hause. Mutter Erde hielt mit der Hitze ihres Herzens den Ofen warm und die Kammern trocken, war der Welt beste Gastgeberin für jeden, der etwas erklimmen oder erforschen wollte, hielt Überraschungen bereit für alle, die tief gruben und sich nicht aufhielten ließen von Angst, Unglauben und Blasen an den Händen. Kurz gesagt, sie war das Fundament, ein Haus, Höhle und Zuflucht, während der Vater den Rauch des Grillfeuers mit Leichtigkeit aus der Küche wehen konnte, und dass war ja mindestens genauso wichtig. So oder so, beide hatten zu tun am Tag und in der Nacht und verloren ihre Kinder ein bisschen aus den Augen dabei.
Sie hörten nicht, wie Flora wieder einmal sagte, als sie gerade neue Knospen aus den Fingerspitzen wachsen ließ und die Luft in eine Blütenfahne verwandelte, „Schau her, liebes Schwesterchen, soetwas Feines kriegst du mit deinem ganzen Getier nicht hin.“ Und Fauna, nicht weniger garstig in ihrem Eifer die Schönste unter den Schönen zu sein, strich sich mit leichter Hand einen Schwarm Schmetterlinge aus den Haaren und ließ die Blütenpracht ganz ordentlich durcheinanderwirbeln. Danach stiegen Schwärme von Flamingos auf, und der Himmel färbte sich rosarot von Getier.
Die Blütenfahne lag schnell am Ufer des Sees, aber Flora rief aus: „Oh, wie schön, farbiger Schnee!“, als Fauna eine Armee kalter Frösche ins Wasser springen ließ und den bunten Schnee in schmutzigen Schlamm verwandelte. Sofort explodierten die Tannenzapfen und Kastanien schossen auf die Froschköpfe. Pollen und Blütenstäube sprangen aus den Bäumen und seiften die Flamingos ein, verklebten ihre Federn und alle stürzten ab, ersoffen jämmerlich in den Heerschaaren erschossener Amphibien. Fauna aber zeigte nur ein müdes, wenn auch bildschönes Lächeln und zögerte nicht. Die Hasen und Rehe und Giraffen und Affen und Ziegen und Schafe und Elefanten und Heuschrecken und alle alten und neuen und noch zu erfindenden Pflanzenfresser zogen in die Schlacht und knabberten das herrliche Blumenkleid der Schwester von allen Seiten an. Es war ein Rupfen und Zerren wie im Sommerschlussverkauf, und Flora stand in zerrissenem Kleid, fahl und blank wie ein Baum im Winter, die Äste wie Arme der Not zum Himmel gereckt und war doch nicht ohne einen weiteren, sehr schönen Einfall. Sie wurde zu Laub und Staub und trockener Erde, legte sich unter der Sonne in den Sand und schuf ein paar letzte giftige Kakteen mit Stacheln, die sich vor keiner Zunge fürchteten: „Friß das, Fauna!“, hauchte die Sterbende und warf einen letzten Blick auf die hohen Wangen der mageren Schwester, deren Tiere nach und nach als Knochengestalten die Erde bevölkerten, weil sie ohne Nahrung nicht weniger zu Staub wurden, als die einstmals schöne Schwester. „Adieu“, atmete Fauna aus, nicht ohne Trauer über ihr vergeudetes Leben und versuchte dabei ein letztes Mal besser auszusehen. Ein letzter Augenaufschlag und die Schwestern waren auch im Tode die Schönste. Die schönste Wüste nämlich, in der jedes einzelne Sandkorn einmal ein Felsen gewesen war, jeder Same ein Versprechen auf eine Familie und alle ausgeblichenen Knochen ihr eigenes Buch des Lebens geschrieben hatten. Adieu, ihr Schönen. Am Ende war alles umsonst.
Ein paar Wochen später strich ein wie immer eiliger Vater, über die glutheißen Reste seiner Kinder, die so schön und voller Talente gewesen waren, und weinte bittere Tränen. Auch die Mutter weinte, denn es hatte eine Menge Arbeit gemacht, die Mädchen so weit zu bringen. So warf sich ein Sturm aus Tränen in das Dünenmeer und eine Flut aus Bächen kam über die Berge. Vater und Mutter legten sich noch einmal kräftig ins Zeug und erweckten die Kinder ein zweites Mal zum Leben. Wilder, einfallsreicher, feurig und voller Leidenschaft würden sie den Planeten mit neuen Lebewesen und ganz und gar paradiesischen Ideen bevölkern.
Damit die Sache aber nicht wieder in einem großen Aussterben ihr Ende fand, erschufen Mutter Erde und Vater Wind noch einen Wächter dazu. Einen großen Bruder für die Schwestern. Ein besonderes Wesen, das in seiner auffälligen Gestalt, jeden Tag und immer wieder daran erinnerte, wie sehr alles voneinander abhing und verbunden war, sich bedingte und einander brauchte. Dieser Bruder hatte keinen Namen und auch keine Hütte, Nest oder Wald, sondern tauchte auf wie ein Wind, zeigte sich am Horizont oder in der Spiegelung eines Bürofensters, stand still da und befriedete den Widerstreit der Eitelkeiten mit einem einzigen, ruhenden Blick, der die Schwestern an die Unterschiedslosigkeit ihrer Liebe erinnerte und daran ihre gegenseitige Schöpferkraft zu achten, um sie für ein besseres Leben für alle einzusetzen.