Zeit für Experimente

Raphael Gielgen ist Trendscout Future of Work beim Schweizer Möbelspezialisten Vitra. Was macht ein Trendscout in Krisenzeiten? Wie sieht er die Zukunft der Arbeit? Im Telefoninterview verrät er es uns.

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Interview: Elena Winter
Fotos: Vitra

Herr Gielgen, wo erreichen wir Sie gerade?
Im Homeoffice. Aber das war schon vor Corona so. Ich habe ein tolles Büro zu Hause, von hier aus kann ich sehr gut arbeiten.

Als Trendscout bei Vitra sind Sie aber auch viel unterwegs. Normalerweise bereisen sie über 20 Länder pro Jahr. Wie sieht Ihr Arbeitsalltag inzwischen aus?
Eine Reise möchte ich so schnell nicht unternehmen, dazu ist das Infektionsgeschehen derzeit (Anm. d. Red.: Anfang September 2020) zu dynamisch. Stattdessen lese und recherchiere ich viel und tausche mich in unterschiedlichen Video- und Webcast-Formaten mit unseren Kunden und Partnern weltweit aus.

Niemand hätte gedacht, dass ein Virus uns so sehr in Beschlag nimmt und dabei auch unser Arbeitsleben so stark beeinflusst. Inwiefern muss der viel strapazierte Begriff „New Work“ jetzt nachjustiert werden? Was bedeutet er heute?

„New Work“ ist ein Ausdruck, den wir gerade in Deutschland gern verwenden, ein Modewort. Es ist gut, dass die Wissensarbeit über diesen Begriff hinterfragt wurde. Im Ausland kennt man ihn kaum. Ich benutze ihn ebenfalls nicht. Eher würde ich von einem veränderten Wesen der Arbeit sprechen. Und das bezieht sich ganz klar auf die Arbeitsarchitektur – in dem Sinne, wie wir arbeiten, wie wir führen und wo wir arbeiten. Hier wird die virtuelle Architektur, also die Remote Work oder Fernarbeit, die beispielsweise über Videokonferenzen, aber künftig etwa auch über Augmented Reality stattfindet, in den nächsten Jahren massiv wachsen. Die physische Architektur dagegen, also die Arbeit, die an physischen Orten erfolgt, löst sich immer mehr auf. Vor wenigen Monaten war Remote Work noch eine Notlösung, bis zum Ende des Jahres wird es etwa die Hälfte unserer täglichen Arbeit ausmachen. Wir stehen damit vor dem größten Strukturwandel der Wissensarbeit der letzten Jahrzehnte!

Was bedeutet das für das klassische Büro im Unternehmen? Welche neue Rolle kommt ihm zu?
Der Fortschritt, die Innovationskraft und wirtschaftliche Stärke eines Unternehmens basiert auf der Power des Kollektivs. Das Büro, oder wie auch immer wir es nennen, ist der Ort, wo dieses Kollektiv zusammenkommt. Die Menschen werden sicher auch weiterhin ins Büro gehen, aber eben nicht mehr fünf Tage die Woche. Und der Grund, warum sie das immer noch tun, ist ganz einfach: Es geht um Teilhabe. Zum einen in Form von gemeinsamen Ritualen wie dem wöchentlichen Team-Frühstück und zum anderen durch Formen der Kollaboration und Co-Kreation zwischen den Mitarbeitern untereinander. Der Raum, in dem gearbeitet wird, wird sich diesen Bedürfnissen unterordnen müssen. Aus Sicht des Arbeitsgebers geht es also längst nicht mehr darum, den Mitarbeitern einen schicken Drehstuhl oder Schreibtisch zur Verfügung zu stellen – nein, inzwischen geht es um völlig neue Umgebungen, um Flächen fürs Kollektiv. Die Arbeitsstätte wird so immer mehr zur Erlebnisstätte, wo Menschen gern zusammenkommen und mit- und voneinander lernen.

Hat das Modell Großraumbüro da überhaupt noch eine Zukunft?
Mit dem Begriff Großraum ist es doch wie mit dem Begriff SUV: Die einen mögen‘s, die anderen hassen es. Deshalb lädt der Begriff auch nicht zu einer Diskussion ein. Wir sollten es eher konstruktiv angehen und fragen: Sehen die großen Räumlichkeiten in Zukunft anders aus? Natürlich tun sie das. Denn früher hatte man bei großen Büroräumen häufig den Eindruck von Massentierhaltung – und darauf hat heute niemand mehr Lust. Von dem Gefühl der Kontrolle, das damit einhergeht, sollten sich auch Arbeitgeber endlich lösen! In Zukunft wird es vielmehr darauf ankommen, dass wir Arbeit viel flexibler gestalten. Sogenannte Ticketing-Modelle haben sich da beispielsweise gut bewährt, bei denen an unterschiedlichen Projekten und Themen gearbeitet wird – egal von wo. Hier geht es nicht mehr um Kontrolle, sondern vielmehr um gemeinsames, motiviertes Arbeiten an Projekten, um Transparenz in den einzelnen Prozessen und um das Lernen und Entdecken von neuen Aufgaben, Anwendungen und Fragestellungen.

Wie steht es um das Thema Verantwortung – für sich und für andere? Eine Fähigkeit, die wir ja gerade in diesen Zeiten besonders auszubauen lernen. Gilt das auch für das Arbeitsleben?
Absolut. Und das heißt nicht nur, dass wir in einer Work-from-anywhere-Landschaft unser Arbeitspensum selbst verantworten. Sondern Verantwortung bezieht sich auch auf die Frage, wie wir alle miteinander umgehen. Das sollte Teil jeder Unternehmenskultur sein. Vor allem seitens des Arbeitgebers ist dabei ganz wichtig, dass ich meinem Team psychologische Sicherheit biete und das Gefühl der Zugehörigkeit vermittle. Nur dann können Verantwortungsbewusstsein und Identifikation mit dem Unternehmen entstehen. Letztlich geht es um den folgenden Dreiklang: Wie arbeiten wir? Wie werden wir geführt? Und wie ist das Raumangebot? Wenn hier alles stimmt, ist viel gewonnen.

Wie blicken Sie in die Zukunft? Was werden wir eines Tages aus der Krise fürs Arbeitsleben gelernt haben?
Was die Krise jetzt schon gezeigt hat: Wir vermissen einander. Wir wissen wieder zu schätzen, was wir an unseren Kollegen haben. Und wir sehen, dass jetzt die Gelegenheit ist, Dinge infrage zu stellen und neu zu verhandeln. Es ist also auch Zeit für Experimente – und die Firmen sind die Labore, in denen Neues entstehen darf! Ich bin zuversichtlich, dass viele hier gute Beispiele einbringen werden. Wir haben außerdem verstanden, dass es keine schnellen und schon gar nicht eindeutigen Antworten gibt und dass wir uns davon lösen müssen, alles kontrollieren zu wollen. Am Ende, das ist meine Hoffnung, entstehen andere Orte der Arbeit. Orte, die auf Vielfalt basieren und an denen eine große Offenheit herrscht.  Diese neuen Orte sind deine Universität, in der du lernst, deine Werkstatt, in der du begreifst, dein Labor, in dem du experimentierst, deine Bühne, auf der du strahlst, dein Foyer, in dem du anderen begegnest, und all das, wofür dein Zuhause zu klein ist.

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