Wenn sich Welten berühren
In Kunst und Kultur sind interdisziplinäre Kollaborationen kein Novum und Genre-Grenzen dazu da, um gebrochen zu werden. Daraus lassen sich auch für Wirtschaft und Wissenschaft Erkenntnisse ableiten.
Text: Lisa Maria Kunst
Die Balletttänzerin vor Hochhäusern in den Banlieues von Paris. Im weißen Tutu; die Spitzenschuhe schmutzig vom Asphalt. Ihr Gegenspieler ist Streetdancer, trägt Sneakers. Die imaginäre Waffe hält er auf sie gerichtet, den Finger am Abzug. Bildgewaltig werden hier Welten zusammengeführt, die sonst wenig Berührungspunkte haben. Durch eine Zusammenarbeit ganz unterschiedlicher Genres lenkte JR – eine Abkürzung für „Juste Ridicule“– Fotograf und Streetart-Künstler, internationale Aufmerksamkeit auf das Viertel „Les Bosquet“, in dem es 2005 zu Protesten gegen soziale Diskriminierung kam.
JR, durch ein Fotoprojekt seit 2004 im Viertel aktiv, inszenierte als Choreograph mit dem New York City Ballet 2014 ein Stück über die Bewohner der Gegend. Für sein Debut arbeitete er mit Streetdancer Lil Buck und Indie-Musiker Woodkid zusammen. Für den ein Jahr später erscheinenden Dokumentarfilm gewann er keine geringeren als Pharrell Williams und den oskarprämierten Filmkomponist Hans Zimmer. Was klingt wie vermarktungsförderndes Namedropping, ist eine Kollaboration, bei der Hochkultur und Popkultur zusammengeführt werden, Ballett mit Streetdance korrespondiert und die so generierte weltweite Aufmerksamkeit auf soziale Missstände gelenkt wird.
Bei „Les Bosquet“ entstand Innovation, weil die Beteiligten in einem so frühen Stadium einstiegen und das Endergebnis auf diese Weise wirklich gemeinsam prägten. Dass bei dem Projekt ein Dokumentarfilm entstehen würde, kristallisierte sich erst heraus, als Pharrell Williams zusagte, Filmaufnahmen von Abrissarbeiten in Les Bosquet musikalisch zu begleiten. Dass Künstler:innen das Privileg haben, spontan und selbstständig zu entscheiden, in welche Richtung sich das Projekt entwickelt und wann es abgeschlossen ist, ist ein großer Luxus. Oder auch ein Hinweis darauf, Projekte möglichst ergebnisoffen zu starten, um wirkliche Innovationen zu erzeugen.
Kunst, Kommerz und Tech
Die Zusammenarbeit verschiedener Sparten der Kunst waren schon in der Ideenschule des Bauhauses fest verankert. Dieser interdisziplinäre Ansatz von Kunst, Design, Architektur und Handwerk sollte Utopien für das Zusammenleben in der Gesellschaft hervorbringen. Den Gestaltungsauftrag begriffen die Bauhaus-Künstler:innen ganzheitlich.
Gropius fordert im Bauhaus-Manifest ein „bewusstes Mit- und Ineinanderwirken aller Werkleute untereinander.“ Technik und Industrialisierung sowie deren Einfluss auf das allgemeine Leben waren wichtige Einflussfaktoren des Bauhaus-Gedankens.
Kunst und Technik durch Kollaboration zusammen zu bringen, war auch das Ziel von „Experiments in Art and Technology“ kurz E.A.T. Die Non-Profit Organisation wurde 1967 durch die Ingenieure Billy Klüver und Fred Waldhauer sowie die Künstler Robert Rauschenberg und Robert Whitman gegründet. Im Fokus stand weniger die Entwicklung konkreter Prozesse der Zusammenarbeit, als viel mehr direkte Verbindungen zwischen Künstler:innen und Ingenieur:innen herzustellen. Denn je weniger alltägliche Berührungspunkte die beteiligten Disziplinen zueinander haben, desto schwieriger ist die Anbahnungsphase und Zusammenführung der geeigneten Spezialisten für ein Projekt. Das gilt damals wie heute und spricht für den Aufbau eines vielfältigen Netzwerks.
Ein Höhepunkt der Initiative war das Errichten eines Pavillons auf der Expo 1970 in Osaka. Über 75 Künstler und Ingenieure arbeiteten cross-kontinental zusammen und kreierten gemeinsam einen immersiven Ort. Der Pavillon war eingehüllt in eine Installation aus künstlichem Nebel – in dieser Größenordnung bis dahin nicht realisierbar. Die japanische Installationskünstlerin Fujiko Nakaya hatte Experimente mit künstlichem Nebel nur auf wesentlich kleinerem Maßstab vorgenommen. Möglich geworden ist dies erst durch eine Kollaboration mit einem Physiker aus Pasadena. Das Zusammenspiel von Kunst und Technik setzte sich im Inneren fort. Während der Pavillon äußerlich eine Referenz an die landestypische Origami-Tradition darstellte, tauchten die Besucher in der inneren Kuppel in dreidimensionale, durch Spiegelreflexionen erzeugte Bilder und elektronische Musik ein. Dieser Pavillon repräsentierte jedoch kein Land, sondern ein Unternehmen: Pepsi. Der Konzern finanzierte das experimentelle Innovationslabor und kommunizierte damit auf zeitgeistige Art und Weise die Unternehmenswerte.
Gestaltung der menschlichen Zukunft
Ob Bauhaus oder E.A.T. – in beiden Fällen spielte der Einfluss von Technik auf das Individuum, Gesellschaft und die Gestaltung der menschlichen Zukunft eine große Rolle. Ein Zusammenhang der aktueller ist denn je. Privateste Bereiche werden von Algorithmen tangiert – soziale Kontakte von Social Media, das Zuhause via Smart Home Technologie und Beziehungen über Datingplattformen. Für das menschliche Zusammenleben ist es also eine bedeutende Aufgabe Perspektiven zu eröffnen, Innovationen zu schaffen und daraus soziale, ökologische und ökonomische Produkte und Modelle zu entwickeln.
Ein Projekt der EU-geförderten Initiative S+T+ARTS (Science, Technology and Arts), brachte die Designerin und Künstlerin Jessica Smarsch mit der Tech Company Vention Technolgies und einem Neurowissenschaftler zusammen. Ausgangspunkt der Kollaboration war die Erkenntnis, dass multisensorische Stimulation für die Rehabilitation von Schlaganfallpatienten vorteilhaft ist.
Der Weg zu Innovation wurde eingeschlagen, indem man Analogien zur multisensorischen Tätigkeit des Webens herstellte. Entwickelt wurde daraus ein Toolkit: Die Patienten trainieren an eigens entwickelten Geräten, während Sensoren Daten zur Muskelaktivität sammeln. Aus diesen Daten wiederum entstehen Muster, aus denen die Patienten über eine digitale Plattform Kleidungsstücke kreieren können. Auf diese Weise wird der Rehabilitationsprozess in einen kreativen gewandelt. Interessant ist, dass auch hier das Projekt-Ziel offen formuliert wurde. Lediglich eine Verbesserung für das Befinden von Schlaganfallpatienten stand im Fokus. Und das ließ genug Raum für die Entwicklung von neurowissenschaftlicher, technischer und künstlerischer Innovation.
Kollaboration für Wirtschaft und Wissenschaft
Zusammenarbeit unterschiedlicher Spezialisten an Projekten ist aufgrund von allgemein zunehmender Komplexität und Datenmenge auch für Wirtschaft und Wissenschaft sinnvoll.
Immer öfter wird organisationsübergreifend gearbeitet. Unternehmen kaufen Dienstleistungen nicht mehr nur ein, sondern erarbeiten Lösungen gemeinsam mit anderen Spezialisten. Denn der Output einer solchen Kollaboration wird nicht nur steigender Komplexität und Datenmenge gerecht, sondern auch dem Wunsch nach Innovation.
Klar ist, dass interdisziplinäre Kollaboration in vielen Bereichen nicht komplett ohne Reibung verlaufen wird. Zu unterschiedlich können Motivationen und Branchenkulturen sein. Klar ist aber auch, dass nur gemeinsam die richtigen Fragestellungen identifiziert und Lösungen entwickelt werden können. Und dass Reibung und Perspektivwechsel Neues und Positives für Menschen, Unternehmen und Gesellschaft hervorbringen können. Und das ist angesichts der aktuellen Herausforderungen dringend nötig.
Foto: JR, Louis Held, Fujiko Nakaya, Lisa Klappe